«Wir müssen dringend in unsere Sicherheit investieren»
1. Juni 2024, NZZ, Felix E. Müller
Simon Michel leitet das weltweit führende Familienunternehmen Ypsomed, das sich auf die Herstellung von Infusionssystemen für die Selbstverabreichung von flüssigen Medikamenten spezialisiert hat. Grosse Herausforderungen sieht er in der Balance zwischen Innovation und steigenden sozialen und ökologischen Anforderungen.
Herr Michel, das Motto des diesjährigen SEF lautet «When the going get’s tough». Teilen Sie den Eindruck, dass es auch schon einfachere Zeiten gegeben hat?
Unternehmerinnen und Unternehmer müssen stets versuchen, Herr der Lage zu sein. Mit den aktuellen Herausforderungen wie dem starken Schweizer Franken, angespannten Lieferketten, höheren Energiepreisen, Arbeitskräftemangel, immer mehr Vorschriften sowie einer möglichen Erosion der bilateralen Verträge ist es aber zurzeit in der Tat sehr anspruchsvoll. Und dann die unsäglichen Angriffe auf die freie Marktwirtschaft! Viele Unternehmer und Unternehmerinnen in der Schweiz verstehen sich schon lange als soziale Arbeitgeber, die ihre Mitarbeitenden fair und gleich behandeln, die Diversität in den Teams fördern, die ihre Geschäftsmodelle umkrempeln, um nachhaltiger zu werden und CO2 zu reduzieren. Gender-Beauftragte, Gewerkschaften und Klimaüberregulierung bringen wenig und führen zu grossem administrativem Aufwand. Die Balance zu halten zwischen innovativem Unternehmertum und steigenden sozialen und ökologischen Anforderungen ist eine immer grössere Herausforderung.
Die globalpolitischen Probleme sind offensichtlich. Aber wie ist die Lage in der Schweiz?
Mir bereitet der Krieg in Europa Sorgen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Schweiz direkt oder indirekt in einen Konflikt verwickelt werden wird, steigt. Neuralgische Punkte wie die Stromdrehscheibe in Laufenburg oder das Rechenzentrum von Swift in Diessenhofen sind – neben gross angelegten Cyberangriffen auf unsere Kerninfrastrukturen – durchaus mögliche Ziele, um Europa weiter zu destabilisieren. Wir müssen also dringend in unsere Sicherheit investieren. Weil die zusätzlichen Auslagen in die Milliarden gehen, können diese trotz Sparprogramm des Bundesrates nicht aus dem normalen Budget finanziert werden. Als verantwortungsvoller Unternehmer bin ich deshalb bereit, hier meinen Beitrag zu leisten und für eine gewisse Zeit höhere Steuern für Sicherheit und Frieden in Europa zu akzeptieren.
Neben dem Wiedererlangen der Verteidigungsfähigkeit brauchen wir langfristig aber auch Lösungen für noch grössere Migrationsströme aus dem Süden. Denn hier sind wir erst am Anfang. Unser wirtschaftlicher Erfolg und die globale Erwärmung werden wie damals während der letzten Eiszeit – einfach umgekehrt – zu Völkerwanderungen führen, wenn wir die Bedingungen vor Ort in Afrika und dem Mittleren Osten nicht verbessern. Das geht nur zusammen in der Staatengemeinschaft. Deshalb war die Klimakonferenz von Paris so wichtig. Ich bin überzeugt, dass wir die Klimaerwärmung durch Umdenken, Dekarbonisierung und Technik in den Griff bekommen werden und so eine Hauptursache für Migration bekämpfen können.
Sie sind Unternehmer. Was bedeutet diese Problemlage für Leute wie Sie?
Wer sich nicht anpassen kann oder will, wird über kurz oder lang auf der Strecke bleiben. Man sollte weniger negativ sein und aufhören, sich ständig zu beschweren, sondern selbst Veränderungen herbeiführen. Das bedeutet auch, dass man sich als Unternehmer arrangiert, nicht zuwartet und dass man auch schwierige Entscheide fällt. So haben wir bei Ypsomed vor sechs bis sieben Jahren begonnen, vermehrt im Ausland, in Deutschland, Spanien, Tschechien, China und Mexiko, zu investieren. Die Lohnkosten sind in diesen Ländern zum Teil wesentlich tiefer, man kann bauen, ohne dass es Einsprachen von Nachbarn geben könnte, und es gibt auch keine Diskussionen über zu viele Fachkräfte aus dem Ausland. Gleichzeitig hat Ypsomed mehrere hundert Millionen Franken in die Automatisierung investiert und in der Schweiz vor allem Stellen mit höherer Wertschöpfung, also in der Forschung, in der IT und im Bereich der Digitalisierung geschaffen. So sind in den letzten zehn Jahren gegen 1000 hochwertige Stellen in Burgdorf und Solothurn entstanden.
Sie haben nun einige Male angetönt, dass die Schweiz auch unter hausgemachten Problemen leidet. Welchen?
Ich stehe hinter unserem demokratischen Staatssystem, es hat viele Vorteile, führt zu breit abgestützten und ausgewogenen Entscheiden. Aber es macht uns auch langsam und träge. Jede und jeder kann immer und überall mitreden. Das bremst. In unserer immer schneller werdenden Welt ist das ein Problem. Die Agilität ist deutlich gesunken. In unserem Geschäft haben wir eine gewisse Planbarkeit, aber Flexibilität bauen wir uns nicht mehr in der Schweiz auf, sondern an Standorten im Ausland.
Aber ist das Leben für Unternehmer und Unternehmerinnen nicht einfacher geworden? Wenn es strub kommt, wird heute doch der Staat alle retten – das Yoga-Studio während Corona, die Grossbanken, wenn das Management versagt?
Ich bin gegen Industrie- und Wirtschaftspolitik. Sie verzerrt und ist nicht nachhaltig. Ich bin noch heute schockiert, wenn ich daran denke, wie viele KMU und Gastronomiebetriebe ohne ein Polster von drei bis vier Monaten Liquidität gewirtschaftet haben. Man kann nicht bei jeder Turbulenz nach Vater Staat rufen. Auf der anderen Seite war der Lockdown brutal und dauerte lange. Ich hoffe, dass diese Episode für viele Unternehmen eine Lehre war und sie ihre Reserven und Lager vergrössert haben. Bei den Grossbanken ist das eine andere Sache: Hier wurden über Jahre grobe Fehler gemacht. Die Verwaltungsräte dieser Gesellschaften sind zur Rechenschaft zu ziehen. Das muss aber das Aktionariat entscheiden.
Sie sind neu ins Parlament gewählt worden. Können Sie bereits ein Urteil abgeben, ob dort die Anliegen der Wirtschaft Gehör finden?
Parlamente sollen die Bevölkerung repräsentieren. Das ist heute leider nicht mehr der Fall. Von den 246 Parlamentarierinnen und Parlamentarier sind rund 70 Berufspolitiker, 50 Landwirte oder Agronomen, 44 Juristen und bloss 40 Unternehmerinnen und Unternehmer, wobei von denen bloss rund ein Dutzend mehr als einen Mitarbeitenden haben. Unternehmer und insbesondere Vertreter von grossen Unternehmen sind also untervertreten. Auf der anderen Seite repräsentieren viele Kolleginnen und Kollegen im Rat Verbände, die indirekt die Interessen von Wirtschaftszweigen einbringen. Grundsätzlich fühle ich mich von den meisten willkommen geheissen und spüre Freude, dass ich mich engagiere.
Wie wichtig sind die Beziehungen zur EU für Sie als Unternehmer?
Die Schweiz ist keine Insel. Die EU ist mit Abstand unser wichtigster Handelspartner. Freihandelsverträge mit Ländern wie Indien sind wichtig, aber wir dürfen uns nicht einer Illusion hingeben: Wir machen 70 Mal mehr Umsatz mit der EU als mit Indien. Die bilateralen Verträge geben uns ungehinderten Zugang zum grössten Binnenmarkt der Welt, was elementar ist, weil drei Viertel aller in der Schweiz hergestellten Produkte reguliert sind und eine Zulassung benötigen. Aufgrund der Bilateralen I kann ein in der Schweiz zugelassenes Produkt ungehindert in ganz Europa verkauft werden und umgekehrt. Das ist mit simplen Freihandelsverträgen wie mit Indien nicht gegeben, dort muss man immer noch vor Ort aufwendige, zum Teil mehrjährige Zulassungsverfahren durchlaufen. Wenn wir diese gute Zusammenarbeit auch in Zukunft wollen, dann müssen wir der Weiterentwicklung der Bilateralen zustimmen. Wir nennen dieses Vorhaben die Bilateralen III, weil wir, zusätzlich zu den bestehenden, zwei neue Verträge verhandeln. Wichtig ist hier das Stromabkommen, damit wir ungehinderten Zugang zum europäischen Stromnetz erhalten, was unsere Versorgungssicherheit deutlich erhöhen wird. Das ist für unsere Wirtschaft und unser Land überlebenswichtig, stellen wir doch die eigenen AKW in absehbarer Zeit ab.
Das SEF-Motto trifft ja auch ein wenig auf Ihre Partei, die FDP, zu. Wo harzt es denn?
Die FDP war jahrzehntelang die treibende Kraft dafür, dass die Schweiz so ist, wie sie ist – ein Land, in welchem Frieden, Wohlstand und Mitsprache herrschen. Die Grundwerte, die seit jeher vom Freisinn vertreten wurden, sind zur DNA unseres Landes geworden. Ich finde aber auch, dass die FDP wieder in die Deutungshoheit kommen muss. Wir müssen proaktiver und mutiger werden. Abwarten und reagieren passt nicht zu einer Partei, die neben dem Mittelstand insbesondere auch Unternehmerinnen und Unternehmer vertreten will. Die FDP ist mit 15% Wähleranteilen aber keine staatstragende Partei mehr, also müssen wir nicht mehr versuchen, es immer allen recht zu machen. Wir wollen lösungsorientiert sein und Kompromisse eingehen, wie das im Wirtschaftsleben auch der Fall ist. Da gibt es auch nur selten Verträge, die zu 100% unsere Wünsche erfüllen.