«Schweiz-Europa: Gespräch zwischen Simon Michel und Georges Kern»

6. Oktober 2024, NZZ am Sonntag, Ladina Triaca und Daniel Friedli

Sie sind erfolgreiche Unternehmer und geben sich weltoffen: Den Ypsomed-Unternehmer Simon Michel und den Breitling-Chef Georges Kern eint vieles. Doch beim Thema Europa gehen ihre Meinungen auseinander – so wie bei vielen Wirtschaftsvertretern. Ein Streitgespräch.

Bild-Quelle: Hanspeter Bärtschi

Herr Kern, Sie waren bis vor kurzem Mitglied der europafreundlichen GLP. Nun tauchen Sie bei der Gruppe Kompass Europa auf, die gegen neue Abkommen mit der EU kämpft. Was ist passiert?

Georges Kern: Gar nichts! Ich bin definitiv unverdächtig in dieser Debatte, weil ich durch und durch Europäer bin. Mein Vater war Franzose, meine Mutter Deutsche, meine Frau ist Schweizerin. Ich war bei der GLP, weil ich ein liberaler Grüner bin. Ich bin nicht Mitglied bei Kompass Europa. Sie haben mich um meine Einschätzung gebeten, was ein Rahmenabkommen 2.0 für Breitling bedeuten würde. Ich habe geantwortet, dass wir dadurch nicht eine einzige Uhr mehr verkaufen würden.

Ist das Statement ein Freundschaftsdienst an Alfred Gantner, der Kompass Europa gegründet hat und bei Breitling den Verwaltungsrat präsidiert?

Kern: Nein. Ich bin ein eigenständig denkender Mensch. Wenn man mir eine relevante Frage für eine Industrie stellt, die hierzulande 65 000 Menschen beschäftigt – notabene mehr als die Finanzindustrie –, dann antworte ich sachlich und professionell.

Herr Michel, diese Woche haben sich mehrere Unternehmer kritisch gegenüber der EU geäussert. Es scheint, als stünden Sie als proeuropäischer Unternehmer etwas allein da.

Simon Michel: Ich bin kein proeuropäischer Unternehmer. Ich stehe mit Überzeugung für den bilateralen Weg ein. Man muss die Fakten sehen: Laut letzten Umfragen beurteilen 65 Prozent der Schweizer Bevölkerung den bilateralen Weg als vorteilhaft für die Schweiz. Bei der GLP sind es sogar 89 Prozent, lieber Georges. Die Investorengruppe um Alfred Gantner will den bilateralen Königsweg beenden. Die Wirtschaftsverbände werden klar dagegenhalten.

Wo ist sie denn, die Wirtschaft? Es scheint, als hielten Sie als Einziger die Fahne hoch.

Michel: Das stimmt nicht. Ich bin Vorstandsmitglied von Economiesuisse und nahe bei Swissmem, dem Arbeitgeberverband und dem Gewerbeverband. Ich kann Ihnen sagen: Alle stehen hinter dem bilateralen Weg. Aber wir werden erst laut, wenn das Verhandlungsresultat auf dem Tisch liegt.

Kompass Europa sagt, acht von zehn Unternehmern seien skeptisch gegenüber einem neuen Abkommen.

Michel: Also bitte. Das ist absurd. Das kommt daher, dass die Herren von Kompass Europa primär in ihrer Bubble herumfragen. Und 9 von 10 Unternehmern, die von Herrn Gantner oder Herrn Wietlisbach angesprochen werden, kuschen, weil sie derart Respekt vor ihnen haben. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich schätze die Herren von Kompass Europa, aber sie sind in dieser Frage nicht objektiv.

Kern: Ich spreche mit sehr vielen CEO. Diese überlegen sich ja auch, mit wem wir da eigentlich einen Deal eingehen und welches Problem wir allenfalls importieren werden. Nehmen wir das Schengen-Dublin-Abkommen, das die Migration steuern sollte und nicht funktioniert. Oder die Energiekosten, die viermal höher sind als in der Schweiz. Oder die ausufernde Bürokratie. Oder die marode Infrastruktur. Die Märkte schwächeln, in der deutschen Wirtschaft wird von Deindustrialisierung gesprochen. In ostdeutschen Bundesländern werden Rechtsextreme und Kommunisten gewählt. Das kreiert logischerweise ein latentes Unwohlsein, auch bei vielen Unternehmern. Im Gegensatz dazu sehen wir: Hier in der Schweiz geht’s uns verdammt gut.

Michel: Ich stimme zu, dass die EU in einem desolaten Zustand ist. Aber: Sie ist für die Schweiz der mit Abstand wichtigste Absatzmarkt. Einen von drei Franken verdient unser Land mit dem Verkauf von Produkten in die EU. Es ist naiv, zu meinen, wir stellen den Handel mit Europa ein und geschäften nur noch mit China und Amerika. Das würde unseren Wohlstand gefährden.

Kern: Es ist ja nicht so, dass es bei diesem Abkommen um alles oder nichts geht. Seit dem Nein zum EWR 1992 hat man uns immer wieder mit Horrorszenarien über den Untergang des Landes Angst gemacht – sie sind nie eingetreten.

Michel: Weil wir 1999 die Bilateralen I gemacht haben, lieber Georges!

Kern: Jeder war für die Bilateralen. Darum geht es ja gar nicht, denn das ist Vergangenheit. Jetzt geht es doch darum, ob das Rahmenabkommen 2.0 ein guter Deal ist oder nicht. Das werden wir erst abschliessend beurteilen können, wenn das verhandelte Abkommen Ende Jahr auf dem Tisch liegt. Sowieso stellt niemand infrage, dass der europäische Markt wichtig ist. Aber für den Kontext: In den letzten Jahren ist der Handel mit den USA deutlich schneller gewachsen als jener mit der EU. Und mit den USA haben wir noch nicht einmal ein Freihandelsabkommen! Hinzu kommen neue Märkte: Indien, China oder ganz Südostasien – diese Länder haben zusammen weit mehr als vier Milliarden Einwohner. Vier Milliarden. Die EU ist ein Markt von 450 Millionen Einwohnern.

Die Welt ist gross, Herr Michel. Braucht es wirklich mit der EU ein neues Abkommen?

Michel: Wenn wir Nein sagen zur Aktualisierung des bilateralen Wegs, haben wir drei Optionen – erstens, EU-Beitritt: Dafür gibt es keine Mehrheit. Zweitens, EWR-Beitritt: auch hierfür nicht. Und drittens: Wir begnügen uns mit dem Freihandelsabkommen von 1972, aber das wäre definitiv ein Rückschritt. Ein modernes Freihandelsabkommen, wie es Kanada oder England mit der EU abgeschlossen haben, würde beispielsweise die Landwirtschaft in der Schweiz verunmöglichen.

Oder wir machen nichts und warten ab. Ironischerweise argumentieren die Gegner mit Ihnen und Ihrer Firma Ypsomed. Die Medizintechnik-Branche bekam nach dem Aus des Rahmenabkommens als erste Gegenmassnahmen zu spüren. Trotzdem boomt sie heute.

Michel: Wir Unternehmer arrangieren uns immer. Weil Brüssel die in der Schweiz zugelassenen Produkte nicht mehr automatisch anerkennt, müssen wir sie in der EU nochmals zertifizieren lassen, aber . . .

Kern [zückt sein Handy]: . . . Da siehst du deinen Aktienkurs! Der verläuft so steil nach oben, weil du gute Produkte machst. Weil du ein guter CEO bist. Nicht wegen eines Abkommens mit der EU.

Michel: Was wir erlebt haben, wünsche ich keiner anderen Branche. Wir mussten alle Produkte in der EU neu zertifizieren lassen und neue Stellen in Europa aufbauen. Das hat uns einmalig rund 30 Millionen Franken gekostet. Wir haben in der Medizintechnik-Branche gute Margen, so dass wir das wegstecken können. Aber die Branchen, denen als nächste Ungemach droht – Baustoffe, Biozidprodukte, Maschinen und Anlagen etwa –, haben weniger Luft als wir.

Kern: Natürlich brauchen wir ein Abkommen. Aber wir brauchen passende Lösungen in jenen Bereichen, die uns besonders wichtig sind. Beim Lohnschutz oder bei der Zuwanderung etwa.

Gerade diese Woche hat Brüssel deutlich gemacht, dass die EU eine einseitige Schutzklausel bei der Zuwanderung nicht akzeptieren würde.

Michel: Die EU wird uns keine harte Obergrenze bei der Zuwanderung erlauben. Aber wir haben einen anderen Plan: Wir schreiben selber eine Schutzklausel in die Verfassung oder in das Ausländer- und Integrationsgesetz, mit der wir im Notfall die Zuwanderung eigenständig und befristet bremsen können. Das wird aber nicht Teil der Verträge mit der EU, sondern wir werden das als Gegenvorschlag zur SVP-Initiative gegen die 10-Millionen-Schweiz vorschlagen. Dann kann das Volk zuerst darüber abstimmen. Damit wäre die Zuwanderungsfrage geklärt. Die Abstimmung über die Abkommen mit der EU kommt rund ein Jahr später, dabei ginge es dann hauptsächlich um institutionelle und wirtschaftspolitische Fragen.

Nur ist eine solche Schutzklausel so oder so vertragswidrig.

Michel: Nicht unbedingt. Wir halten am Freizügigkeitsabkommen fest und würden nur vorübergehend bremsen. Brüssel würde erst intervenieren, wenn wir die Klausel tatsächlich anrufen. Und dann würde ein Prozedere im gemeinsamen Ausschuss und vor dem Schiedsgericht folgen, das sicher acht Jahre dauert. In dieser Zeit können wir die Zuwanderung kontrollieren.

Selbst dann haben neue Abkommen mit der EU einen politischen Preis. Die Schweiz müsste dynamisch EU-Recht übernehmen und eine Rolle des Europäischen Gerichtshofs bei dessen Auslegung akzeptieren. Ist dieser Preis nicht zu hoch?

Michel: Dynamische Rechtsübernahme bedeutet, dass wir weiterhin zu jeder Neuerung Ja oder Nein sagen können. Schon heute übernehmen wir pro Jahr Hunderte von Vertragsänderungen und Regelungen aus der EU, von Normen für Maschinen bis zu Änderungen an Visa-Formularen. 99 Prozent davon sind rein technischer Natur, völlig unproblematisch. Und jetzt frage ich Sie: Geben Sie mir ein Beispiel einer drohenden Regulierung, die uns wirklich schmerzen würde?

Kern: Das ist ja das Problem: Wir wissen es nicht.

Michel: Weil es keine problematischen Fälle gibt. Die Gefahr wird völlig überzeichnet. Und wenn die EU trotzdem mal intervenieren würde, dann könnte sie im äussersten Fall, nach einem langwierigen Prozess, Ausgleichsmassnahmen ergreifen – keine Strafzahlung, die sind ausgeschlossen, nur eine ähnlich gelagerte und verhältnismässige Ausgleichsmassnahme. Das ist kein Problem.

Die Schweiz hat also keinen Grund zur Sorge, Herr Kern?

Kern: Die EU verabschiedet im Schnitt ein Gesetz pro Tag. Das mag den Bürger nicht immer tangieren, aber die Unternehmen schon. Die Bürokratie kann eine Wirtschaft ersticken. Und schauen wir mal Ende Jahr bei den grossen Verhandlungsthemen, was potenziell auf uns zukommen wird, sei es im Strombereich, im Gesundheitsbereich oder bei der Regulierung der Finanzmärkte.

Michel: Um die geht es ja gar nicht. Das ist der Denkfehler von Alfred Gantner und seiner Investorengruppe: Sie haben Angst vor neuen Finanzregulierungen aus der EU, weil sie nicht höhere Steuern bezahlen wollen. Dabei steht das gar nicht zur Debatte.

Kern: Aber man verhandelt jetzt die Basis für institutionelle Regelungen, die dann für alles gelten, was noch kommt. Natürlich: Die Bevölkerung kann jeweils noch abstimmen, aber wenn sie Nein sagt, drohen Gegenmassnahmen. Das ist keine Beziehung auf Augenhöhe. Darum verlangen die Initianten von Kompass Europa, dass die neuen Abkommen mit der EU zumindest dem obligatorischen Referendum unterstellt werden.

Das würde bedeuten, dass Volk und Stände zustimmen müssten. Was spricht dagegen, Herr Michel?

Michel: Es ist undemokratisch, unehrlich und kommt zu spät. Zu spät, weil die Kompass-Abstimmung nach jener zu den Bilateralen III kommen würde und der Bundesrat gemäss Verfassung die Bilateralen III nicht dem obligatorischen Referendum unterstellen darf. Undemokratisch, weil beim Ständemehr ein Innerrhoder 100-mal mehr Stimmkraft hat als eine Zürcherin. Das wäre doch nicht korrekt.

Kern: So funktioniert aber die Schweiz. Das Ständemehr gilt bei wichtigen Fragen, und diese Abkommen sind fraglos von fundamentaler Bedeutung. Sie sind auf jeden Fall viel wichtiger als manch andere Abstimmung, die in den letzten Jahren mit dem Ständemehr entschieden wurde. Darum ist das sicher nicht undemokratisch.

Michel: Natürlich darf Kompass Europa das Volk fragen, ob es die Verfassung ändern wolle. Aber es ist unehrlich, dass die Gruppe den wahren Grund für ihr Begehren nicht nennt: Sie will das Ständemehr ja nicht aus demokratiepolitischen Gründen, sondern einfach, weil so die Chancen besser stehen, dass das Vertragspaket an der Urne scheitert.

Also haben Sie wohl einfach Angst vor der Abstimmung?

Michel: Wir haben keine Angst vor dem Volk, wir wollen ja alle vors Volk, wie damals bei den Bilateralen I und II, aber ohne die Ständemehr-Verfälschung. Ein Bürger, eine Stimme. Im Übrigen schlagen wir von der FDP ja vor, dass wir eine Revisionsklausel beschliessen: Nach sieben Jahren soll das Volk in Kenntnis der ersten Erfahrungen nochmals über die Verträge abstimmen können, wenn es will.

Kern: Da muss ich etwas schmunzeln. In Deutschland hat es vor langer Zeit einmal eine CSU-Abgeordnete gegeben, die vorgeschlagen hat, man solle bei einer Ehe nach dem verflixten siebten Jahr nochmals neu entscheiden, ob sie weiterlaufen soll oder nicht. Ich habe die Idee dann mal mit meiner Frau besprochen. Das kam nicht so gut an. Ich frage mich, was EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen von solchen Vorschlägen hält.

Man soll es richtig machen, sagen Sie. Warum fordert die Initiative von Kompass Europa denn ein Ständemehr? Warum nimmt sie die Verträge nicht direkt ins Visier?

Kern: Das nennt man Parteipolitik, und das hat auch mit Taktik zu tun, die aber in unserem demokratischen Prozess durchaus legitim ist. Ich bin froh, dass ich momentan keiner Partei angehöre. Solange das Volk immer abschliessend entscheiden kann, ist alles gut.