Freisinniges Frühlingserwachen
1. Mai 2024, Marcel Odermatt
FDP-Nationalrat Simon Michel ist der zweitreichste Parlamentarier der Schweiz. Obwohl seine Firma seit dem Aus des Rahmenabkommens ihren Wert mehr als verdoppelt hat, warnt er unablässig vor den Folgen einer fehlenden EU-Anbindung. Warum?
Diesen Mann hätte die Volkspartei gerne in ihren Reihen: erfolgreicher Unternehmer, Vater von zwei Kindern, nach eigenen Angaben in einer «glücklichen Ehe lebend», Offizier, «ein Patriot» und «gläubiger Christ», wie er betont. «Tatsächlich habe ich mit der SVP in 85 Prozent der politischen Themen eine Übereinstimmung», sagt Simon Michel im Bundeshaus-Restaurant «Galerie des Alpes» mit einem breiten Schmunzeln im Gesicht zur Weltwoche. Doch der Geschäftsführer und Verwaltungsrat des Medizintechnikunternehmens Ypsomed ist ein Freisinniger und sitzt seit den Wahlen im Oktober für die Solothurner FDP im Nationalrat.
Bei den 15 Prozent, bei denen er die Position des bürgerlichen Partners nicht teilt, geht es um das wichtigste Dossier der Schweizer Politik – die Frage, wie das Land das Verhältnis mit der EU gestaltet. Der 47-Jährige ist ein flammender Befürworter eines Abkommens mit Brüssel. Das macht den HSG-Ökonomen und erfolgreichen Unternehmer zum gefährlichsten Gegner der SVP im Ringen um das Europa-Thema.
Parallelen zum EWR-Beitritt
Im Gespräch wird rasch klar: Es gibt eine weitere Gemeinsamkeit mit Christoph Blocher und seinen Leuten. Für den Major im Militärstrategischen Stab des Chefs der Armee geht es beim Vertrag mit Brüssel um alles. «Wir dürfen uns keine Illusionen machen. Werden die Bilateralen III abgelehnt, ist das Thema einer institutionellen Anbindung für eine Generation vom Tisch. Dann werden sich meine Kinder, die fünfzehn und sechzehn Jahre alt sind, wieder mit dieser Frage beschäftigen.» Es gibt für ihn also entsprechende Parallelen zum Entscheid für einen Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum vor bald 32 Jahren. Und dieser Urnengang könnte rascher kommen, als viele denken. «Die Teams in Bern und Brüssel arbeiten mit Hochdruck und kommen zügig voran. Ich rechne damit, dass der Vertrag 2025 in die Räte kommen wird. Die finale Volksabstimmung wäre im Herbst des folgenden Jahres», erklärt das Mitglied der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates.
Doch es gibt ein Problem. Die SVP hat Anfang April ihre Nachhaltigkeitsinitiative eingereicht. Beobachter in Bern gehen davon aus, dass dieses Anliegen zuerst behandelt werden muss, bevor der Souverän über «die Stabilisierung und Weiterentwicklung der bilateralen Verträge» entscheidet, wie Michel und sein Lager das geplante Vertragswerk bezeichnen. Michel schlägt den umgekehrten Weg vor: «Wenn das Abkommen unter Dach und Fach ist, ist die Guillotine-Klausel vom Tisch und es wird möglich sein, mit der EU über die Freizügigkeit zu reden und Verbesserungen herauszuholen.» Bei einer Annahme der Initiative müsste die Schweiz bei der Zuwanderung neue Konzepte entwickeln. Sein Rezept: dem technischen Fortschritt vertrauen, das Inländerpotenzial besser nutzen, dem Inländervorrang Nachdruck verschaffen, den Familiennachzug begrenzen und stärkere Priorisierung von qualifizierten Einwanderern.
Nummer zwei hinter Martullo
Während Michel den politischen Sonderfall der Schweiz festigen will, gehört er im Bundeshaus zu einer seltenen Spezies. Seine Firma mit Hauptsitz in Burgdorf, die Autoinjektoren für Menschen mit chronischen Krankheiten produziert, ist äußerst erfolgreich. Der Wert des 2004 an die Börse gebrachten Unternehmens beträgt mit weltweit über 2300 Mitarbeitenden rund fünf Milliarden Franken. Michel und seiner Familie gehören 73 Prozent der Aktien. Damit ist er – gleich hinter Magdalena Martullo-Blocher – der zweitreichste Parlamentarier in Bern.
Auf das Geld aus der Bundeskasse für sein Parlamentariermandat ist Michel nicht angewiesen. Trotzdem absolvierte er die Ochsentour und verbrachte vor seiner Wahl in die grosse Kammer sechs Jahre im wenig prestigeträchtigen Solothurner Kantonsrat als Finanzpolitiker. Wie ernst ihm das Engagement war, zeigt, dass er vor dem Versand der Wahlunterlagen einen PR-Coup landete: Michel gab bekannt, in der St.-Ursen-Stadt für fünfzehn Millionen Franken ein neues Konferenz- und Kulturzentrum zu bauen. Die Aktion zahlte sich aus. Obwohl die FDP Wähleranteile verlor, schaffte Michel den Sprung in den Nationalrat.
Der Patron exerzierte mit seinem Betrieb durch, was laut den Anhängern des institutionellen Andockens auch anderen Branchen droht. Seit Mai 2021 ist die Schweiz im Bereich der Medizinprodukte nicht mehr Teil des Binnenmarktes und wird als Drittstaat betrachtet. Ypsomed konnte die Strafaktion dank entsprechendem Aufwand umsetzen. Sie musste alle Produkte neu in der EU zulassen und hatte das regulatorische Machtzentrum des Konzerns nach Deutschland zu verlegen, um ihre Waren weiterhin in die EU liefern zu können. Der Anteil der Exporte des Unternehmens in den europäischen Binnenmarkt beträgt 62 Prozent. Trotz dieses Handicaps stieg der Reingewinn 2022 um das Doppelte, die Ebit-Marge (Gewinn vor Steuern) entwickelt sich ähnlich, und der Aktienkurs explodierte seit der Ankündigung der Sanktionierung von gut 141 Franken am 27. Mai 2021 auf 380 Franken Ende vergangener Woche.
Könnte es nicht sein, dass es für die renommierte Herstellerin von Pens für Diabetiker wichtiger ist, dass es immer mehr Übergewichtige auf der Welt gibt als die Neuauflage des gescheiterten Rahmenabkommens? Michel räumt ein, dass Ypsomed gut mit der neuen Situation umgehen könne: «Das fehlende Abkommen mit der EU kostet uns rund ein Prozent Gewinn, unsere Verdienstspannen sind glücklicherweise gross genug. Aber gibt andere Branchen, die unter die Räder kommen werden, wenn der bilaterale Weg endet, weil ihre Margen deutlich geringer sind – zum Beispiel Landwirtschaftsfahrzeuge, technische Maschinen, Spielzeuge oder Biozidprodukte.»
Michel steht vor einer anspruchsvollen Aufgabe. Er wird erklären müssen, weshalb die Bevölkerung bei der direkten Demokratie und beim Föderalismus Einbussen hinnehmen muss, seine Firma aber trotz des derzeitigen Wettbewerbsnachteils floriert wie nie zuvor in ihrer 21-jährigen Geschichte. Er will sich dieser Herausforderung stellen. «Wir müssen das grosse Ganze sehen. Ohne Vertrag erodieren die bilateralen Abkommen. Kommt es zu keiner Einigung, wird die Schweiz über kurz oder lang Wohlstandsverluste hinnehmen müssen.»
Ende der Bauernfamilien
Seine größte Sorge sind die Gewerkschaften. Die Arbeitnehmerorganisationen verlangen für ihre Zustimmung beispielsweise die Einführung von zusätzlichen Gesamtarbeitsverträgen. Inwieweit ist der Economiesuisse-Vorstand Michel bereit, den Linken entgegenzukommen, damit er das große Ziel erreicht und er bei der Jahrhundertabstimmung als Sieger vom Platz geht? «Der Status quo im Lohnschutz muss garantiert werden. Das können wir innenpolitisch lösen.» Wie bei den Bilateralen I und II wollten die Gewerkschaften auch dieses Mal etwas Zusätzliches, um das Abkommen unterstützen zu können. Diese Haltung sei bei vielen Wirtschaftsvertretern aber noch nicht mehrheitsfähig. «Viele wollen, dass wir klare Grenzen setzen. Kollegen von anderen Firmen sagen mir, lieber kein Abkommen als zu große Zugeständnisse.» Große Hoffnungen setzt er in eine Allianz von Großunternehmen, Gewerbe und Bauern. Die Landwirte würden nie eine drohende Kündigung des Landwirtschaftsabkommens goutieren, davon ist er überzeugt. Bei einem Nein zu den Bilateralen III müsste mittelfristig das Freihandelsabkommen von 1972 aufdatiert werden. Das wäre das Ende der Zölle auf Nahrungsmittel und damit der Bauernfamilien. «Das hätte auch zur Konsequenz, dass sich die Bauern in der SVP entscheiden müssen.»
Welche Rolle spielt Blocher?
Als erfolgreicher Unternehmer und hoher Militär ist sich Michel gewohnt, in Szenarien zu denken. Er ist sich bewusst, dass das Projekt an der Urne abstürzen könnte. Obwohl der FDP-Mann einen anderen Standpunkt vertritt als die andere bürgerliche Partei, will er unbedingt mit der SVP im Gespräch bleiben. «Was wäre die Alternative, was könnten wir tun, wenn es zu einer Ablehnung kommt?» Hier erwarte er von Parteichef Marcel Dettling, Fraktionschef Thomas Aeschi und der Verantwortlichen für das Europa-Dossier – Magdalena Martullo-Blocher – konkrete Ideen, wie die Schweiz ihr Verhältnis mit Brüssel neu ordnen und stabilisieren kann. Was sicher nicht reiche, sei die aktuelle schrille Kampagne, die die Verhandlungen mit dem wichtigsten Handelspartner als Verhandlungen mit einem Kinderfresser verunglimpfe. «Diese Rhetorik hilft niemandem, am wenigsten der Schweiz.» Mastermind hinter dem Nein zum EWR war 1992 Christoph Blocher. Der SVP-Krösus sorgte fast im Alleingang dafür, dass die Eidgenossenschaft das Anliegen knapp ablehnte. Welche Rolle der mittlerweile 83-Jährige bei der Schicksalsschlacht spielen wird, ist unklar. Sicher hingegen ist, dass Michel eine Schlüsselrolle haben wird.