«Er will Mister Bilaterale werden»

5. Juli 2024, Tages-Anzeiger, Mario Stäuble

Der Solothurner FDP-Nationalrat übernimmt das Präsidium der Lobbyorganisation Progresuisse. Und er lanciert Ideen, um bei den Verhandlungen Schweiz – EU vorwärtszukommen.

Bild-Quelle: Beat Mathys

Diesen Donnerstag um 18.30 Uhr treffen sich im Clé de Berne, dem Privatclub der PR-Agentur Furrerhugi in der Berner Innenstadt, ein paar Dutzend einflussreiche Köpfe. Sie wollen eine Antwort auf die Frage finden, wer aus den Reihen der Schweizer Europafreunde Zeit, Geld und Nerven aufwendet, um in einen monumentalen Abstimmungskampf einzusteigen.

Die Kampagne könnte Jahre dauern, in diesen Monaten läuft sie an: Es geht um das Vertragspaket zwischen der Schweiz und der EU, um dessen Inhalt aktuell rund 200 Schweizer Beamte ringen.

Bisher haben die Gegner des Vertragswerks den Ton gesetzt, die EU-Skeptiker. Die SVP verschickt seit Mitte März, als der Bundesrat die Verhandlungen mit der EU offiziell eröffnete, einmal pro Woche einen «Nein zum Unterwerfungsvertrag»-Newsletter – illustriert mit einer in EU-Blau gehüllten Figur vom Berner Kindlifresserbrunnen, welche die Schweiz verspeist. Die Gewerkschaften äussern sich kritisch. Mitte und FDP warten ab. «Wo sind die Befürworter?», fragte die NZZ kürzlich. 

Einem reicht es nun. «Wir fangen jetzt an», sagt Simon Michel.

Der 47-jährige Unternehmer ist seit zehn Jahren CEO des börsenkotierten Konzerns Ypsomed, den sein Vater Willy Michel aufgebaut hat. Rund 2500 Personen arbeiten für das Unternehmen, die «Bilanz» schätzte das Vermögen der Familie im Jahr 2023 auf 3,3 Milliarden Franken. Das verschafft Michel im Parlament – und in seiner Partei – eine Sonderrolle: Nach Magdalena Martullo-Blocher von der SVP ist er der zweitreichste Unternehmer.

Sein Risiko ist politisch-persönlich

Das Treffen im Clé de Berne ist die Generalversammlung von Progresuisse. Der Verein setzt sich für eine «offene, erfolgreiche und vernetzte Schweiz» ein. Und für die Bilateralen III, wie das Vertragspaket inzwischen offiziell genannt wird.

Wie an vielen Berner Anlässen wurde die wichtigste Frage schon vorab entschieden. Michel wird sich zum neuen Präsidenten von Progresuisse wählen lassen. Der Solothurner FDP-Politiker, der seit Ende letzten Jahres im Nationalrat sitzt, investiert zusammen mit einer Handvoll weiterer Unternehmer pro Jahr einen «tiefen sechsstelligen Betrag» in den Verein. Das erzählt Michel in seinem Büro am Ypsomed-Hauptsitz im bernischen Burgdorf, zwei Wochen vor dem Progresuisse-Event. 

Sein Risiko ist also nicht finanziell, sondern politisch-persönlich: Michel positioniert sich als Lobbyist für die Bilateralen. Er macht sich selbst zum Gesicht der Befürworter. 

Damit stellt er sich gegen drei andere Gruppen von schwerreichen Unternehmern, die das entstehende Paket bekämpfen: Erstens Transportunternehmer Hans-Jörg Bertschi, Initiator der Vereinigung Autonomiesuisse. Zweitens Marcel Erni, Alfred Gantner und Urs Wietlisbach von der Vermögensverwaltungsfirma Partners Group, welche die Lobbyorganisation Kompass/Europa gegründet haben. Drittens Magdalena und Christoph Blocher. Für den 83-jährigen Blocher senior dürften die Bilateralen III zur letzten grossen politischen Schlacht seines Lebens werden – eine Art Neuauflage der EWR-Abstimmung von 1992.

«Ein Generationenentscheid»

Dass die Fronten so verlaufen würden, hat sich abgezeichnet. Simon Michel ist ein Gründungsmitglied von Progresuisse. Der Verein ist im Februar 2021 erstmals an die Öffentlichkeit gegangen, damals machten mehrere Hundert Unterstützer mit. Ziel war, dem damaligen Rahmenabkommen zum Erfolg zu verhelfen. Der Plan scheiterte, im Mai 2021 beerdigte der Bundesrat das Paket.

Heute ist die Liste der offiziellen Unterstützer von Progresuisse kürzer. Neben Simon Michel sitzen zwei Wirtschaftsköpfe im Vorstand: Kaspar Wenger, Präsident von Holcim Schweiz, sowie Felix Ehrat, Ex-Chefjurist von Novartis und Verwaltungsrat beim Sanitärkonzern Geberit. Ehrat sagt: «Die EWR-Abstimmung vom 6. Dezember 1992 war ein Generationenentscheid, und jetzt kommt der nächste Generationenentscheid. Es ist klar, dass ich mich da engagiere.»

Viele gewichtige Befürworter einer Einigung mit der EU wollen indessen abwarten, bis klar ist, was bei den Verhandlungen genau herauskommt. Selbst eine Handvoll Personen, die im Vorstand von Progresuisse sitzen, wollen noch nicht mit Namen hinstehen. 

«Das muss jetzt erst wachsen», sagt Simon Michel.

Drittstaat Schweiz

Es ist kein Zufall, dass Michel sich im EU-Dossier engagiert. Ypsomed (Jahresumsatz 2023: 550 Millionen Franken) produziert unter anderem Injektionspens, zum Beispiel für Zuckerkranke. Die Medtechbranche geriet früh in den Konflikt mit der EU. Die Schweiz wird in diesem Sektor seit Mai 2021 wie ein Drittstaat behandelt. Mit dem Ergebnis, dass Ypsomed all ihre Produkte in Deutschland neu zertifizieren lassen musste, um in der EU weiterhin problemlos Pens und Insulinpumpen verkaufen zu können. «Das waren drei Jahre Arbeit – eigentlich für nichts», sagt Michel.

Natürlich sei die EU ein «Bürokratiemonster», findet er. «Aber die Schweizer Wirtschaft ist exportorientiert, und wenn man liefern will, muss man die Spielregeln akzeptieren.» Schweizer Spezialisten seien früher beim Ausarbeiten von EU-Regeln mit am Tisch gesessen, und dieser Zugang sei verloren gegangen. Aber für Michel geht es nicht nur um Wirtschaftspolitik: Die Schweiz sei mit den Nachbarländern stark verwachsen, auch bei der Sicherheit, bei der Migration: «Kurz – ich bin der festen Überzeugung, dass die Schweiz keine Insel ist.»

Konfitüre und Zopf von Kurt Fluri

Dass aus dem Unternehmer Michel der Politiker Michel wurde, ist nicht selbstverständlich. Es hat auch mit einem Glas Konfitüre und einem Zopf zu tun.

Nachdem Simon Michel und seine Ehefrau Monika Vollmer Michel 2009 mit zwei Kleinkindern von Zürich nach Solothurn gezogen waren, besuchte ihn am ersten Sonntagmorgen ein Nachbar mit einem Willkommensgeschenk. Dieser Nachbar war Kurt Fluri, damals Stadtpräsident von Solothurn und einziger FDP-Nationalrat des Kantons.

Aus der Geste wurde eine Nachbarsfreundschaft – und mit der Zeit eine Politkameradschaft. Fluri habe ihm mit seinem Arbeitseifer und seinem Instinkt imponiert, sagt Michel heute: «Es gab aber nicht den einen Moment, als er sagte, ‹Simon, du muesch›, es war mehr ein Reifeprozess.» 2017 wurde Michel Kantonsrat, 2023 Nationalrat. Als Nachfolger von Kurt Fluri.

Dieser verneint heute auf Anfrage, Zopf und Konfi beim prominenten Zuzüger strategisch platziert zu haben: «Die Tradition stammt von meiner Frau, wir machen das bei allen Nachbarn», sagt er am Telefon.

Ein Verkäufer, der den Markt testet

Vor seinem Einstieg im Familienunternehmen war Michel beim Mobilfunkanbieter Orange im Marketing. Der Mann ist ein Verkäufer, der auch mal mit einer Idee den Markt testet.

Zum Beispiel, als er diesen Frühling eine «Wehrsteuer» lancierte: Unternehmen – darunter auch sein eigenes – sollten zehn Jahre lang ein Prozent mehr Gewinnsteuer zahlen, um die Aufrüstung der Schweizer Armee zu finanzieren. Politisch hatte der Vorschlag einen schweren Stand, FDP-Parteichef Thierry Burkart bedachte ihn mit wenig freundlichen Worten. Aber beim Publikum positionierte sich Michel als Unternehmer, der bereit ist, für sich selbst Nachteile in Kauf zu nehmen, wenn es einer grösseren Sache dient.

Mit ähnlich unorthodoxen Überlegungen fällt er auch jetzt wieder auf. «Wir brauchen etwas, damit die Gewerkschaften am Ende zum EU-Paket Ja sagen können, ohne das Gesicht zu verlieren», sagt er. Er sei bereit, mit den Verbänden der Arbeitnehmer über Mindestlöhne in Gesamtarbeitsverträgen zu sprechen: «Moderne Schweizer Unternehmen zahlen heute ohnehin mehr.»

Das Ventil

Der zweite heikle Punkt ist die Zuwanderung. Es ist wohl der grösste Streitpunkt zwischen der Schweiz und der EU: Kann die Schweiz die Menge der einwandernden Personen aus der EU steuern – und wenn ja, wie? 

Michel ist geprägt von «seinem» Unternehmen Ypsomed, das ständig nach spezialisierten Fachkräften sucht. Er findet, in der Schweiz hätten «deutlich mehr als 10 Millionen Menschen» Platz. Alles eine Frage der Infrastruktur, die man anpassen müsse, der Eisenbahnlinien, Strassen, Wohnungen, Schulen.

Aber das sähen nun einmal nicht alle so, und darum brauche es ein Ventil. Heute steht im Personenfreizügigkeits­abkommen mit der EU, dass bei «schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen» in der Schweiz Massnahmen möglich seien. Was damit genau gemeint ist, weiss niemand – das Ventil wurde noch nie aktiviert. «Ich könnte mir vorstellen, dass man diese Regel mit Prozentzahlen konkretisieren könnte», sagt Michel. Dass man also – mehr oder weniger konkret – einen Wert zu definieren versucht, ab dem die Schweiz bei der Zuwanderung Massnahmen ergreifen darf.

Michel selbst sieht das Problem eher umgekehrt: Die Zuwanderung sei eine Folge der Nachfrage in der Wirtschaft. Und die Schweizer Bevölkerung sei im Durchschnitt bald so alt, dass es für viele Unternehmen schwierig werde, im Inland Arbeitskräfte zu rekrutieren. «Da gehört auch das SVP-Milieu dazu: etwa Landgasthöfe oder Bauernbetriebe. Auch die werden Probleme haben, Leute zu finden. Ich weiss nicht, ob es Menschen in dieser Partei gibt, die sich mit diesem Problem auseinandersetzen.»

Das Platzieren von politischen Spitzen beherrscht er also. Er wird auch selbst einstecken müssen, und zwar über längere Zeit: Simon Michel selbst rechnet damit, dass die Abstimmung über die Bilateralen III ungefähr im Herbst 2026 stattfinden wird. Vielleicht auch später.