«Die FDP soll sich zum EU-Paket bekennen»
15. Juni 2025, NZZ am Sonntag, Simon Marti und Georg Humbel
Der freisinnige Nationalrat und Ypsomed-Chef Simon Michel ist überzeugt, dass die Vorteile der Zuwanderung überwiegen. Von seiner eigenen Partei fordert er mehr Abgrenzung gegenüber der SVP.

Herr Michel, am Freitag hat der Bundesrat endlich die Verträge mit der EU veröffentlicht. Worauf wir immer noch warten, ist eine Positionierung der FDP. Warum dauert das so lange?
Aber der Freisinn war lange Zeit die Partei der Bilateralen. Das gilt nicht mehr vorbehaltlos?
Es ist ja nicht so, dass wir gespalten sind. Es gibt kritische Stimmen, aber in der Bundeshausfraktion sind das lediglich eine Handvoll Leute. Natürlich ist durch den Entscheid der Partei, sich erst vertieft mit den Verträgen zu befassen, ein gewisses Vakuum entstanden. Das gilt es nun zu füllen.
In dieses Vakuum konnten die Gegner hineinstossen und die Debatte bestimmen.
Das ist so. Aber ich habe den Vertragstext gelesen und sage Ihnen: Er ist gut, wir werden die Bevölkerung davon überzeugen.
Für Ihren Parteikollegen Christian Wasserfallen bringen die Verträge keinen Mehrwert.
Natürlich haben die Verträge und der ungehinderte Marktzugang einen unglaublichen Wert. Unternehmen können dank dem Abbau der technischen Handelshemmnisse ihre Produkte im ganzen EU-Raum verkaufen. Der Bundesrat hat die Zahlen geliefert, die zeigen, wie wichtig das Abkommen für unseren Wohlstand ist. Ohne Vertrag fällt die Wertschöpfung unseres Landes fast fünf Prozent tiefer aus. Die Fakten sprechen für sich.
Sie argumentieren als Unternehmer. Was bringt das Paket dem normalen Schweizer Bürger?
Es geht um den Wohlstand aller Schweizerinnen und Schweizer. Nur mit diesem Paket können wir den bilateralen Weg weitergehen. Verlassen wir diesen, fallen die Abkommen nach und nach weg. Dadurch resultiert mit der Zeit ein jährlicher Einkommensverlust von 2500 Franken pro Einwohner, den wir entweder einsparen oder durch zusätzliche Steuern wettmachen müssen. Wir sind eingebettet in Europa, die guten Beziehungen garantieren den Austausch in Forschung, Bildung und Kultur, lassen uns ohne Pass reisen. Das erleben wir alle jeden Tag, vielleicht ist uns das zu wenig bewusst.
Kritiker sehen mehr Zuwanderung, mehr Dichtestress und höhere Mieten.
Der Grossteil der Zuwanderung ist Arbeitsmigration. Die Leute kommen mit einem Arbeitsvertrag, weil die Unternehmen, die Spitäler, die Hotels, die Landwirte sie schlicht brauchen. Ohne diese Menschen sind unsere Restaurants und Spitäler bald einmal zu.
Das ist keine Antwort auf die Ängste der Leute.
Der Dichtestress ist real, ich will dieses Gefühl nicht herunterspielen. Wir investieren zu wenig in unsere Infrastruktur. Zugleich schläft in der Schweiz kaum jemand unter der Brücke. Klar macht es Leute unzufrieden, wenn gut ausgebildete Deutsche im Seefeld die Wohnungen übernehmen. Doch es greift viel zu kurz, jedes erdenkliche Übel der Zuwanderung anzulasten. Auch immer mehr Schweizerinnen und Schweizer leben allein oder nur zu zweit und ohne Familie und nehmen also deutlich mehr Platz pro Einwohner in Anspruch, als das noch vor 20 Jahren der Fall war.
Wie viele Millionen Einwohner verträgt dieses Land?
Ich war in vielen Städten dieser Welt unterwegs und kann sagen: Wenn man beispielsweise frühere Gewerbe- und Industriegebiete klug umnutzt und auf bestehenden Flächen mehr Wohnraum schafft, ist noch viel möglich. Rein objektiv können in diesem Land sehr viel mehr Menschen gut leben und arbeiten.
Niemand will, dass unser Land bald aussieht wie Hongkong!
Davon sind wir Welten entfernt. Ich habe jahrelang in der Stadt Zürich beim Klusplatz gewohnt. Wenn ich dort sechs Minuten laufe, bin ich im Wald und sehe Rehe.
Bei der Zuwanderung hat sich die Schweiz eine Schutzklausel ausbedungen. Hand aufs Herz: Der Bund wird sie nie anrufen.
Ich gehe sehr wohl davon aus, dass der Bundesrat die Schutzklausel nutzen wird. Wenn der Grossrat im Tessin zum Beispiel zum Schluss kommt, die Zuwanderung aus Italien ist wirklich zu hoch und muss begrenzt werden, muss der Bundesrat die Forderung prüfen und wird sehr wahrscheinlich Massnahmen dagegen beschliessen.
Und wenn Brüssel nicht einverstanden ist, darf die EU uns bestrafen?
Es geht nicht um Bestrafung, sondern um Ausgleich. Die Massnahmen der EU aber werden nicht willkürlich ausfallen, sie müssen angemessen sein. Eine angemessene Reaktion auf eine Begrenzung der Zuwanderung im Tessin könnte sein, dass umgekehrt weniger Schweizerinnen und Schweizer nach Italien ziehen dürfen. Ist das so schlimm?
Aber genau das beschneidet doch unsere Souveränität.
Wir wollen ja die Personenfreizügigkeit. Das ist unser souveräner Entscheid. Die Freizügigkeit bringt uns so viele Vorteile, dass wir diese Ausgleichsmassnahmen in Kauf nehmen können. Es ist ein Geben und Nehmen.
Macht Ihnen die dynamische Rechtsübernahme keine Sorgen? All die Paragrafen, die wir aus Brüssel übernehmen müssen?
Das Abkommen ist zu einem gewissen Grad eine Beschränkung unserer absoluten Souveränität. Das ist so. Der Souveränitätsverlust ist aber so klein, dass wir ihn akzeptieren können.
Das ist einer der Hauptpunkte der Kritiker. Die Schweiz soll souverän bleiben.
Sind wir überhaupt so frei und unabhängig? 80 Prozent unseres Saatgutes, das die Bauern brauchen, kommt aus der EU. Sehr viel Tierfutter und Dünger stammen aus der EU. Wir haben praktisch keine eigenen Rohstoffe. Wenn jetzt eine Partei behauptet, man könne in einer völlig unabhängigen Rütli-Schweiz, in einer Art Heidiland, leben, dann ist das ein Bild, das ich schlicht nicht teile.
Aber nicht einmal die Wirtschaft ist geschlossen für die Verträge. Was ist da los?
Es gibt ein paar wenige Exponenten, die dagegen sind. Man muss genau hinschauen, was die für ein Geschäftsmodell haben. Das sind Finanzinvestoren, die Milliarden in Firmen stecken. Aber vor allem im Ausland. Andere produzieren gar nicht in der Schweiz. Der Wohlstand, den wir auf dem Werkplatz Schweiz erarbeiten, stammt von unseren Zehntausenden KMU und aus der Exportindustrie. Die braucht den privilegierten Zugang zum EU-Binnenmarkt.
Ein Freihandelsabkommen reicht nicht?
Nein, ein Freihandelsabkommen allein reicht natürlich nicht. Freihandelsabkommen senken bloss die Zölle. Sie bringen keinen privilegierten Marktzugang. Dann müssten alle Branchen all ihre Produkte in der EU neu zulassen. Bei zulassungspflichtigen Produkten braucht es zwingend eine Dépendance in der EU. Diese Regeln gelten für über drei Viertel der in der Schweiz hergestellten und exportierten Produkte. Das schaffen vor allem KMU nicht. Viele, die heute gegen das Paket schiessen, verstehen das nicht. KMU haben nicht die Kraft, diesen Schritt zu machen.
Die Medtechbranche hat das auch geschafft!
Nein, nicht alle. Viele, vor allem kleine in der Branche, haben das nicht geschafft. Das Verfahren kostet und ist kompliziert.
Wie schwierig ist es für Ihre Branche, wenn der privilegierte Marktzugang permanent wegfällt?
Zurzeit kommen praktisch keine neuen Medtechfirmen mehr ins Land. Der süddeutsche Raum und die Niederlande verzeichnen einen hohen Zuwachs, die Schweiz aber nicht mehr. Im Schnitt haben wir ohne privilegierten Marktzugang 2,3 Prozent zusätzliche Kosten. Und wir sind eine effiziente Branche mit hoher Wertschöpfung. Bei anderen Branchen mit tieferen Margen ist die Schweiz dann schnell nicht mehr ein attraktiver Standort.
Bauen Sie Ihr neues Werk deshalb im deutschen Schwerin?
Wir investieren auch in der Schweiz. Aber vielleicht würden wir noch mehr hier investieren, wenn wir ein sichereres Umfeld hätten. Durch die Kündigungsinitiative und den Kampf der SVP gegen die Bilateralen erleben wir eine grosse Unsicherheit. So schadet diese Partei dem Wirtschaftsstandort massiv. Wenn Verwaltungsräte Investitionsentscheide treffen, spielt diese Unsicherheit eine grosse Rolle. Wir investieren derzeit rund 20 Prozent in der Schweiz und 80 Prozent im Ausland. Sehr viel in Deutschland, in China und in den USA. In den kommenden vier Jahren kumuliert über 1 Milliarde Schweizerfranken.
Magdalena Martullo-Blocher ist neben Ihnen die wichtigste Unternehmerin im Parlament, warum kommt sie zu einem komplett anderen Schluss als Sie?
Als Unternehmerin hat sie sich arrangiert. Frau Martullo-Blocher investiert auch zu einem grossen Teil nicht mehr in der Schweiz. Wir Unternehmer wie Ems oder Ypsomed passen uns an die Rahmenbedingungen an, meist ohne darüber in der Öffentlichkeit zu reden. Die grossen Unternehmen werden die Schweiz nicht mit einem Knall verlassen. Das geschieht im Stillen.
Wenn dieses Paket dermassen wichtig ist: Rauft sich die FDP zusammen? Stellt sich der Freisinn am 18. Oktober an der Delegiertenversammlung hinter diese Verträge?
Ich bin zuversichtlich, weil das Paket wirklich gut ist. Der Weg, den unser Präsident Thierry Burkart vorgeschlagen hat, ist für eine freisinnige Partei genau der richtige. Wir sind nicht Nordkorea oder top-down geführt wie die SVP oder die SP. Wir diskutieren die Themen aus. Sonst sind wir nicht mehr liberal.
Das kommt uns zu sehr wie ein Werbespot daher. Was haben Sie als Unternehmer für eine Erwartung an die FDP?
Als Politiker halte ich mich an den parteiinternen Prozess. Als Unternehmer verlange ich, dass sich die FDP zum Paket bekennt. Die kantonalen Handelskammern sind dafür. Ich verstehe die FDP immer noch als die Wirtschaftspartei. Das muss aus meiner Sicht ein Ja geben.
Die FDP verliert laufend Wähleranteile. Treibt Sie das um?
Das bereitet mir Sorgen. Es ist schlecht, wenn die Politik immer mehr an den Polen stattfindet und nicht mehr im vernünftigen Zentrum. Aber die FDP hat in den vier Jahren unter Thierry Burkart klar an Profil gewonnen. Er hat die Basis geschaffen, damit wir wieder gewinnen können.
In Deutschland ist die FDP implodiert. Wie kann der Freisinn in der Schweiz zulegen?
Wir können nur gewinnen, wenn wir uns deutlicher von der SVP abgrenzen. Das EU-Dossier ist dafür gar nicht schlecht und auch die extreme 10-Millionen-Schweiz-Initiative. Das ist eine Chance für die FDP. Offenheit gegen Abschottung. Das ist die Frage.
Wie schauen Sie als Unternehmer auf den Zollstreit mit den USA?
Das macht mir grosse Sorgen. Guy Parmelin hat ein breit gefasstes Verhandlungsmandat erhalten, um eine Lösung zu finden. Selbst die Landwirtschaft ist nicht tabu.
Was sagen Sie zum ruppigen Umgang der USA mit der Schweiz?
Ich kann als Nationalrat nicht andere Länder kritisieren. Aber vielleicht führt die Zollkrise dazu, dass die SVP aufwacht. Mit der EU haben wir gar keine Zölle. Trotzdem glaubt die SVP, dass die EU gar nicht so wichtig sei und die Schweiz einfach mehr Handel mit anderen Ländern treiben könne.
Stimmt das denn nicht?
Ich bin ein grosser China-Fan. Ich war über 40 Mal dort, und Ypsomed baut ein Werk in der Grossregion Schanghai. Was ist seit dem Freihandelsabkommen passiert? Wir haben den Handel mit China mehr als verdoppelt. Das ist super! Aber wir verdienen noch immer mehr Geld mit Gütern, die wir nach Baden-Württemberg exportieren.
Warum ist der Ruf Brüssels in der Schweiz dann so schlecht?
Die EU wird ganz bewusst schlechtgemacht. Das ist seit 30 Jahren das Marketingkonzept der stärksten Partei des Landes. Die SVP ist mit einem antieuropäischen und xenophoben Kurs gross geworden. Sie kultiviert eine Stimmung, wonach alles, was aus der EU kommt, nur schlecht sei. Dieses Narrativ hat sich bei einem Teil der Bevölkerung mittlerweile etabliert. Es ist an uns, das jetzt zu korrigieren.