«Das Michel-Prinzip: FDP-Nationalrat Simon Michel will die nächste SVP-Initiative bodigen. Und lanciert alle paar Tage eine neue Idee»

7. Dezember 2024, NZZ am Sonntag, Simon Marti

Der Solothurner Nationalrat und Unternehmer hat sich dem Kampf gegen die Nachhaltigkeitsinitiative der SVP verschrieben. Eine akrobatische Übung.

Bild-Quelle: Paolo Dutto

Endlich. In den kommenden beiden Wochen dürfte der Bundesrat die Verhandlungen über die Zukunft der bilateralen Beziehung mit der Europäischen Union abschliessen. Sogar EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen wird kurz vor Weihnachten in Bern erwartet. Mehr europäische Aufmerksamkeit geht nicht. Nach all den Monaten, in denen die Gegner eines neuen Vertragswerks die öffentliche Arena dominierten, wollen nun die Befürworter loslegen, um das Abkommen durch das Parlament und eine Volksabstimmung zu steuern. Auf diesem langen politischen Weg lauern etliche Fallen.

Ein Hauptproblem stellt sich bereits in den nächsten Monaten. Die SVP droht mit ihrer Nachhaltigkeitsinitiative gegen eine «10-Millionen-Schweiz» alle wohlüberlegten Pläne des proeuropäischen Lagers zu durchkreuzen. Diese Abstimmung ist derzeit die grosse Sorge von Simon Michel, Unternehmer, Ypsomed-CEO und seit einem Jahr freisinniger Nationalrat. In dieser überschaubaren Zeit ist Michel zu einem der lautesten Vorkämpfer einer Lösung mit Brüssel avanciert.

Am Freitagabend sitzt Michel auf der Bühne der Berner Eventfabrik. Die Europäische Bewegung Schweiz hat zur Jahrestagung geladen, und der Freisinnige tut, was er derzeit sehr oft macht: Er warnt. «Diese Initiative ist die gefährlichste Initiative dieses Jahrzehnts», ruft Michel in den Saal.

Warum verfällt ein nüchterner Unternehmer in diesen Ton? Höchstwahrscheinlich kommt die Nachhaltigkeitsinitiative vor dem neuen EU-Vertrag an die Urne. Wenn die Stimmbevölkerung zu dieser Vorlage Ja sagt, drohen die Beziehungen zu Brüssel zu implodieren. Denn die SVP verlangt, dass die Schweizer Bevölkerung nicht über die 10-Millionen-Marke wachsen darf. Bloss: Das könnte bereits im Jahr 2040 der Fall sein. Dann müsste der Bund die Personenfreizügigkeit mit der EU kündigen, hält der Initiativtext klipp und klar fest.

Das Michel-Prinzip

Es gibt gewichtige Leute im Parlament, die sich vor genau diesem Szenario fürchten. Sie beschreiben ein Land, das an «Wachstumsschmerzen» leidet, wie es der Politgeograf Michael Hermann jüngst auf den Punkt brachte. Auf genau diese Stimmung zielt die Volkspartei.

Welche Aussichten die Initiative hat, mag Michel nicht quantifizieren. «Wie gross die Chancen der Initiative genau sind, ist mir relativ wurst. Ich bin Unternehmer und denke pragmatisch: Das Risiko ist grösser als null, also braucht es einen Gegenvorschlag», sagt er im Gespräch am Rande der Session. Die Agenda ist sportlich, das weiss Michel. «Bei der Nachhaltigkeitsinitiative ist der Fahrplan eng. Ein Gegenvorschlag muss in der Frühlings-, spätestens aber in der Sommersession vorliegen», rechnet er vor.

Die Zeit drängt also. Der FDP-Parlamentarier hat in den vergangenen Wochen damit begonnen, Elemente eines Gegenvorschlags zu skizzieren. Es ist ein mühsamer Balanceakt. Ein wirkungsvoller Gegenvorschlag muss griffig genug sein, um die Zuwanderung zu dämpfen, gleichzeitig muss sich eine Mehrheit der SVP-Gegnerschaft darauf verständigen können.

Eine Art Michel-Prinzip wird nun erkennbar, alle paar Tage lanciert er eine neue Idee. Erst griff er einen Vorschlag des Mitte-Präsidenten Gerhard Pfister auf: Mittels Schutzklausel soll die Zuwanderung gesteuert werden. Dann, in der vergangenen Woche, ergänzte Michel dieses Konzept. Bei anhaltend hoher Zuwanderung sollen Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitern 10 000 Franken zahlen, wenn sie eine Stelle mit einer Person aus der EU besetzen, berichteten die Zeitungen von CH Media.

«10 000 Franken tun weh, und genau das soll auch so sein, damit ein Effekt auf die Zuwanderung erzielt wird und die Bevölkerung den Gegenvorschlag auch als bessere Lösung wählen wird», sagt Michel nun. Fix ist diese Abgabe aber nicht. «Vielleicht finden wir auch noch eine elegantere Lösung.» Gegenüber der NZZ schlug er vor, dass der Bund bei Ausländern Wehrpflichtersatz eintreiben oder, als Ultima Ratio, flächendeckende Kontingente für die Zuwanderung beschliessen könnte.

Die Reaktionen fallen durchzogen aus. Ein natürlicher Verbündeter auf der Suche nach einer «eleganten Lösung» ist die Mitte-Partei. Die aber signalisiert derzeit Zurückhaltung. «Ein Gegenvorschlag muss eine Möglichkeit zur Steuerung der Zuwanderung beinhalten. Darum verlangen wir eine Schutzklausel», sagt der Parteipräsident Gerhard Pfister. «Aber es braucht auch ein klares Signal an die Bevölkerung, dass die Politik die Problematik, die mit dem Wachstum einhergeht, verstanden hat. Und da bin ich mir nicht sicher, ob ein paar tausend Franken pro Fachkraft ausreichen.» Echte Begeisterung klingt anders.

Wer hilft?

Selbst in Michels FDP werden Bedenken laut. Manche kritisieren sein Vorgehen hinter vorgehaltener Hand als unabgestimmt und eigensinnig. «Ich finde es mutig und politisch richtig, dass Simon Michel nach einer Lösung sucht», lobt der FDP-Aussenpolitiker Hans-Peter Portmann. «Weil aber eine Abgabe auf den einzelnen Angestellten zielt, könnte sie gegen das schon heute gültige Diskriminierungsverbot verstossen.» Die EU könnte sich dagegen zur Wehr setzen und den gemischten Ausschuss anrufen. «Aber vielleicht müssen wir solche Differenzen einfach auch aushalten können», meint Portmann. Der FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen sieht kaum Aussicht auf Erfolg: «Ich habe mir das mehrmals überlegt, aber ich sehe weder einen gemeinsamen Nenner noch eine politische Mehrheit dafür.» Linke Ideen wiederum wolle er nicht unterstützen.

Damit trifft Wasserfallen einen wunden Punkt. Selbst wenn sich FDP und Mitte irgendwie auf einen Text einigen, reicht das nicht im Parlament. Die Linke könnte einspringen, aber diese Hilfe gibt es kaum umsonst. «Zwingend ist ein Gegenvorschlag nicht, wir müssen zu gar nichts Hand bieten», sagt der SP-Co-Präsident Cédric Wermuth. «Die SVP-Initiative versucht das Gefühl der Leute anzusprechen, dass sie zu kurz kommen.» Das Problem, so Wermuth, sei die wachsende Ungleichheit. «Darüber kann man gerne mit uns reden. Dann sprechen wir aber über Massnahmen im Bereich Wohnen, über bezahlbare Krankenkassenprämien und über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.»

Die Ansage der SP macht Michels Aufgabe nicht eben einfacher. «Es gibt sozialpolitische Elemente, die wir aufnehmen können. Es braucht wohl einen Mix, damit der Vorschlag mehrheitsfähig wird», so Michel. «Klar aber ist: Es dürfen keine sachfremden Forderungen sein, die einfach dem SP-Programm entstammen.»

Michel wird noch eine Weile balancieren müssen.