«Das Kreuz mit der EU»
18. Dezember 2024, Republik, Priscilla Imboden
Bald soll ein neuer bilateraler Vertrag zwischen der Schweiz und der EU vorliegen – und dann geht das innenpolitische Zerren los. Wird die Wirtschaft dem Vorhaben wie früher zum Durchbruch verhelfen?
Bild-Quelle: Nadine Redlich
Manchmal kann ein Teddybär ganz nützlich sein, denn alle mögen ihn. Das weiss Simon Michel, FDP-Nationalrat, Medizinaltechnikunternehmer, Senkrechtstarter in Bundesbern. Er hat sich in Position gebracht für den Kampf um das künftige Verhältnis der Schweiz mit der EU. Michel nimmt sich Zeit, mitten im Gewusel in der Wandelhalle des Bundeshauses während der Wintersession. Weil ihm das Thema wichtig ist. Doch er ist einsam unter den Freisinnigen. Sie, die stets eine tragende Säule des bilateralen Weges waren, halten sich bislang bedeckt.
Bald geht es los. Noch vor Weihnachten wollen sich die Schweiz und die EU über ein neues Vertragswerk einigen. Der Bundesrat hat ihm noch keinen Namen gegeben. Es soll den Marktzugang künftig regeln, ähnlich wie das Rahmenabkommen, das der Bundesrat vor mehr als drei Jahren entsorgte.
Wenn das neue Vertragswerk eine Chance haben soll, müssen glaubwürdige Botschafter dafür einstehen. Simon Michel ist so einer: Er kann aus eigener Erfahrung berichten, was die bilateralen Verträge bedeuten. Der Solothurner führt das börsenkotierte Unternehmen Ypsomed, das sein Vater gegründet hat. Die Firma ist eine Erfolgsgeschichte. Ihre Injektionsgeräte für Diabetesmedikamente, die aussehen wie dicke Kugelschreiber, exportiert sie in zahlreiche Länder.
Aber Spritzen sind nicht gerade kuschelig. Rhetorisch arbeitet Michel deshalb lieber mit Plüschtieren: «Nehmen Sie einen Teddybären aus Thun. Er hat angenähte Augen, die geprüft werden müssen, damit ein Kind sie nicht abreissen und verschlucken kann.» Dafür ist die Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt Empa zuständig. Heute ist deren Stempel auch im EU-Raum gültig, der Teddybär kann ohne weitere Tests dorthin exportiert werden. Das ist ein grosser Vorteil gegenüber dem Export nach Indien oder in die USA. «Dort muss alles neu getestet und zertifiziert werden», sagt Michel. «Das ist teuer und kann Jahre dauern.»
Dieses Thema, in der Fachsprache «gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen» genannt, werde total unterschätzt, sagt der freisinnige Unternehmer. Dabei sei es mindestens so wichtig wie der Zollabbau. Brüssel möchte sich mit Bern darüber einigen, wie die Schweiz Gesetze für Produkte, die sie in die EU verkaufen will, künftig den EU-Normen anpasst. Solange es hier keine Einigung gibt, werden Schweizer Güter nicht konform, sobald die EU ihre Gesetze anpasst. So erodiert der Marktzugang.
Als Erstes traf es die Medtechbranche, in der Simon Michels Firma Ypsomed tätig ist: Sie verlor vor gut drei Jahren den direkten Zugang zum EU-Markt.
Das bedeutete für das Unternehmen zweierlei: Es musste ein Büro in der EU eröffnen, um dort die Produkte erneut zertifizieren zu lassen. Michel verschob das «regulatorische Machtzentrum» seiner Firma, wie er es nennt, aus dem bernischen Burgdorf ins norddeutsche Schwerin. Das kostete viel Geld. Und: Ein Viertel ihrer Produkte stelle die Firma nicht mehr her, weil es zu teuer geworden sei, sie separat in der EU ein zweites Mal zu zertifizieren. In der Medtechbranche mit ihren hohen Margen sei es möglich, sich anzupassen, sagt Michel. Unternehmen aus anderen, weniger rentablen Bereichen könnten sich das nicht leisten.
Etwa wenn sie Lifte herstellen, Baumaschinen oder Turbinen. Oder eben Teddybären.
Der Gegenpol
Philip Erzinger ist wie Simon Michel FDP-Parteimitglied, aber er sieht alles anders. Er kenne Michel gut, sagt Erzinger, sie seien zusammen im Militär gewesen, er schätze ihn, könne aber einfach nicht verstehen, warum er das «Rahmenabkommen 2.0» wolle.
Der Zürcher war mal Lokalpolitiker für die FDP in Thalwil und auf der Teppichetage der Credit Suisse tätig, jetzt ist er Lehrer an einer Sekundarschule. Während des Videointerviews sitzt er im Schulzimmer, um ihn herum Pulte, hinter ihm Schülerpräsentationen.
Erzinger kämpft als Geschäftsführer von Kompass Europa gegen die neuen Verträge mit der EU. Die Allianz wurde Anfang 2021 gegründet, um das Rahmenabkommen zu versenken – von drei Milliardären, die den Vermögensverwalter Partners Group besitzen.
Die Europäische Union will, dass alle, die Zugang zum Binnenmarkt haben, nach den gleichen Regeln spielen. Genau das aber möchte Kompass Europa verhindern. «Wenn wir EU-Recht übernehmen, nivellieren wir uns auf ein europäisches Niveau runter», sagt Erzinger. Die Schweiz verliere so ihre «Wettbewerbs- und Standortvorteile», gerade wenn sie mit den USA oder China handeln wolle.
Erzinger und seine Mitstreiter stören sich daran, dass die Schweiz in den neuen Verträgen verpflichtet werden soll, europäisches Recht, das den EU-Binnenmarkt regelt, ins Schweizer Recht zu übersetzen. Und daran, dass ein Streitschlichtungsgremium mit Einbezug des Europäischen Gerichtshofes über Dispute urteilen soll. Zwar bleiben die demokratischen Abläufe in der Schweiz gleich: Jedes Gesetz muss durchs Parlament und bei einem Referendum vor die Stimmbevölkerung. Aber sagt sie Nein, darf die EU Strafmassnahmen ergreifen.
Das sei ein inakzeptabler Eingriff in die demokratischen Rechte, sagt Erzinger. Nur: Bereits heute gestaltet die Schweiz 30 bis 50 Prozent ihrer Gesetze EU-konform, im Rahmen des sogenannten «autonomen Nachvollzuges». Das sei etwas anderes, findet Erzinger: «Das machen wir freiwillig. Ausserdem gibt es gute Gesetze aus der EU, die können wir übernehmen. Aber eben nicht alle.»
Eiszeit oder «cooling-off-period»
Erzinger ist sehr bedacht darauf, nicht in die SVP-Ecke gerückt zu werden. «Wir betreiben nicht Fundamentalopposition, verstehen Sie uns richtig, wir sind wirklich nicht die SVP.» Kompass Europa argumentiere differenziert «mit der feinen Klinge».
Kompass Europa wolle den bilateralen Weg fortsetzen, «aber auf Augenhöhe», sagt Erzinger: «Wir müssen der EU jetzt sagen: ‹Wir verzichten auf den bevorzugten Marktzugang, den wir heute haben.› Dann gibt es eine cooling-off period, das will ich nicht kleinreden. Die EU wird uns sicherlich wieder piesacken wollen mit dem erneuten Ausschluss aus dem Forschungsprogramm Horizon und so weiter.» Man könne aber danach wieder an den Verhandlungstisch zurückkehren und neue, echte bilaterale Verträge aushandeln.
Die EU allerdings schliesst das aus.
Die Rückfallposition sei das Freihandelsabkommen von 1972, sagt Erzinger. Womit das Resultat das gleiche wäre wie bei den Forderungen der SVP.
Über die Motivation der drei Hedgefonds-Manager wird viel gerätselt. Sie sind in der Finanzwelt tätig, die nicht betroffen ist von den bilateralen Verträgen mit der EU. Zudem befindet sich der grösste Anteil der von der Partners Group verwalteten Vermögen in der Europäischen Union – trotz dem von Partners-Group-Mitbegründer Fredy Gantner oft beklagten «Bürokratiemonster».
Wollen sie in die Geschichte eingehen? Haben sie sich gesagt: Verdient haben wir genug, jetzt mischen wir die Politik auf? Simon Michel, der Medtechunternehmer, vermutet profanere Beweggründe: «Sie fürchten wohl, dass sie irgendwann wegen der EU mehr Steuern bezahlen müssen.»
Fredy Gantner streitet das ab. Er sagte schon zu Beginn zur Republik, sein Engagement schade der Partners Group mehr, als es nütze.
Was sicher ist: Die drei Milliardäre sorgen bei den herkömmlichen Wirtschaftsverbänden für Ärger. Es sei «schon ein bisschen arrogant», wenn sie behaupteten, sie verträten die Wirtschaft, sagt Economiesuisse-Direktorin Monika Rühl. Kompass Europa zähle lediglich 3500 Mitglieder, der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse vertrete 100’000 Unternehmen.
Economiesuisse war eine entscheidende Stütze für die bisherige Europapolitik. Der Verband schüttete wiederholt Millionen von Franken aus und pflasterte die Schweiz mit Plakaten zu, um die Abstimmungen über die bilateralen Verträge zu gewinnen oder um Initiativen, die den bilateralen Weg gefährdeten, zu besiegen.
Er wird auch dieses Mal entscheidend sein. Dem Vernehmen nach will sich FDP-Aussenminister Ignazio Cassis nämlich nicht besonders für die neuen bilateralen Verträge einsetzen. Er sieht die Wirtschaftsverbände in der Pflicht. Economiesuisse aber hielt sich in der aktuellen Debatte eher zurück und vernachlässigte das sogenannte «Grundrauschen», eine Kampagne, durch die die Europapolitik auf eine generelle Art positiv besetzt wird.
Skepsis an der Spitze
Das ist kein Zufall. Denn ganz zuoberst herrscht Skepsis. Im Herbst 2020 wurde Pharma- und Chemiemanager Christoph Mäder zum Präsidenten der Economiesuisse gewählt. Damals liess er verlauten, er werde sich dafür einsetzen, dass sich der Verband weiterhin «auf wichtige wirtschaftspolitische Dossiers» konzentriere und engagiert für die Wirtschaft einstehe – «verantwortungsvoll, faktenbasiert und couragiert».
Doch hinter der Kulisse bremste Mäder, der von Wegbegleitern als sehr konservativ beschrieben wird und bis März 2024 noch im Verwaltungsrat der blocherschen Ems-Chemie sass, die Bemühungen des Verbandes, den kommunikativen Boden zu legen für die Fortführung des bilateralen Weges.
Als die Gegnerschaft der neuen Verträge mit der EU immer lauter wurde und die Medien berichteten, die Wirtschaft sei gespalten, begann es innerhalb der Economiesuisse zu brodeln. An einer Vorstandssitzung im September reichte der Textilunternehmer Carl Illi einen Antrag ein, der Mäder und sein Team dazu verpflichtete, sich stärker öffentlich für den europapolitischen Weg der Schweiz einzusetzen: «Wer die Medien verfolgte, erhielt den Eindruck, Kompass Europa fülle alle Zeitungen, das ganze Internet», sagt Carl Illi. «Wir mussten handeln.» Die Zustimmung war so eindeutig, dass Christoph Mäder darauf verzichtete, die Stimmen zu zählen.
Carl Illi sagt, dass seine Firma auf den verbesserten Zugang zum europäischen Markt angewiesen sei. Wenn der nicht mehr gewährleistet sei, müsse er sich fragen, ob seine Firma noch in der Schweiz bleiben könne oder nicht. So gehe es vielen Unternehmen, und das drohe dem Land zu schaden: «Die Schweiz kann nicht ein grosses Monaco werden, das nur von Finanzdienstleistern lebt und keine produzierenden Betriebe mit einer lokalen Wertschöpfung hat.»
Ein Kommunikationsoffensivchen
Interna kommentieren will Economiesuisse-Direktorin Monika Rühl nicht. Nach dem Entscheid des Vorstandes habe der Verband die Kommunikation nun aber intensiviert: mit Inseraten in verschiedenen Zeitungen Anfang November, in denen sich Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Wissenschaft zum bilateralen Weg bekennen, mit Testimonials, mit einem Foto nach der letzten Vorstandssitzung im November auf der Plattform X.
Und das soll erst der Anfang sein. Für die Kampagne setzt Economiesuisse unter anderem auf «Stark und Vernetzt», eine Allianz, die sie gemeinsam mit anderen Organisationen nach dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative ins Leben gerufen hat. «Damit haben wir in den letzten zehn Jahren alle SVP-Initiativen gebodigt, die den bilateralen Weg gefährdeten», sagt Rühl.
Die Allianz dümpelt allerdings seit einiger Zeit vor sich hin. Sie besteht aus einer etwas wild zusammengewürfelten Gruppe von Wirtschaftsverbänden, Firmen, Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Operation Libero, Suisseculture und Europäische Bewegung Schweiz (EBS). Dieses Jahr hat sie an verschiedenen Orten Veranstaltungen zu den Jubiläen der bestehenden bilateralen Verträge organisiert, die auf wenig Echo stiessen. «Der Ball ist bei der Economiesuisse, und sie hält mit aller Kraft an ihm fest», sagt EBS-Geschäftsführer Raphaël Bez. Ob der Wirtschaftsdachverband für diesen entscheidenden Kampf gerüstet ist, ist offen.
Einer, von dem man erwarten würde, dass er hinsteht und eine klare Ansage macht, ist Stefan Brupbacher, auch er FDP-Mitglied und zudem Direktor des Verbandes Swissmem. Er sagt: «Wir waren immer für die bilateralen Verträge und werden auch für die Bilateralen III eintreten, wenn sie sich entlang des Erwarteten orientieren.» Aber: «Wir unterstützen die Bilateralen III nicht um jeden Preis. Wir sind überzeugt, dass ein flexibler Arbeitsmarkt der wichtigste Vorteil der Schweiz ist. Deshalb sind wir gegen politische Geschenke an die Gewerkschaften.»
Brupbacher spricht damit die Gespräche zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberinnen an, die parallel geführt werden, um den Lohndruck aus der EU mit inländischen Massnahmen abzufedern. Die Gewerkschaften fordern mehr Gesamtarbeitsverträge und Mindestlöhne. Dagegen wehren sich die Arbeitgeber.
Was aber, wenn solche Zugeständnisse der Preis sind, um die SP an Bord zu holen und das Projekt mehrheitsfähig zu machen? Setzt sich die Wirtschaft dennoch für die bilateralen Verträge ein? Das bleibt offen, denn noch wird gepokert.
Worum es gehen wird
Der Bundesrat wird es nach 2021 wohl kaum ein zweites Mal wagen, die Verträge mit der EU in den Papierkorb zu werfen. Das Parlament wird das vermutlich auch nicht tun. Das Kalkül lautet nämlich, dass die Reaktion aus Brüssel weniger forsch ausfallen wird, wenn nicht die Schweizer Politik, sondern die Bevölkerung an der Urne Nein sagt.
Somit wird die Stimmbevölkerung entscheiden, ob der bilaterale Weg weitergeht. Oder ob er endet.
Derzeit geht man in Bern davon aus, dass die Abstimmung in rund vier Jahren stattfinden wird.
Bis dahin fliesst noch viel Wasser die Aare, den Rhein und die Rhone hinunter. Was sich aber schon jetzt sagen lässt: Es wird dann nicht nur um den Marktzugang gehen. Es wird darum gehen, ob die Schweiz eine Art Monaco wird, eine Premium-Wohnzone für reiche Ausländerinnen und Finanzinvestoren, oder ob sie ein Land bleibt, in dem auch produziert wird, nicht nur gescheffelt und gedacht. Es wird darum gehen, ob die Schweiz auch als Nicht-EU-Mitglied mitten in Europa integriert ist oder ob sie sich abschottet und nur auf ihre eigenen Vorteile schielt.
Unternehmer Simon Michel hat sich mit seiner Firma arrangiert, trotz den Konflikten mit der EU. Auf die Frage, weshalb er sich engagiert, muss er nicht lange überlegen. Er sei «hundertprozentig überzeugt», dass es sich die Schweiz nicht leisten könne, sich mit den Nachbarn zu überwerfen: «Wir leben in einer Welt, in der Mauern aufgezogen werden, wo Krieg herrscht, wo die USA Zölle erhöhen. Wir müssen uns mit unseren Nachbarn einigen, für unsere Sicherheit und für unseren Wohlstand.»
Der Teddybär ist nur ein ganz kleiner Teil der Geschichte.